Wer kennt nicht den beherzten Erzengel Michael in seiner Funktion als Drachentöter, der in römisch-katholischer Kulisse illustrativ und gleichsam voller Symbolik den Helden spielt? In Wurmlingen (nahe Tübingen) stieß ich auf ein saurierähnliches Bildnis, das mit der Überlieferung des Ortes eng verknüpft ist und ausnahmsweise auch mal ohne Helden auskommt.
Das Bildnis befindet sich in einem steinbehauenen kirchlichen Schrein mit vier gravierten Seiten am Fuße der Wurmlinger Kapelle. Es steht an einem Parkplatz mit Blick auf einen hohen Bergrücken, dessen Kuppe die Kapelle ziert. Nicht umsonst trägt der Ort diesen kuriosen Namen. Einer mündlichen Überlieferung zufolge ist der Lindwurm (althochdeutsche Bezeichnung für Drachen) nicht nur für eine phantasievolle Prägung des Ortsnamens verantwortlich, sondern soll sich auch tatsächlich dort irgendwo in einer Höhle aufgehalten haben:
"Der eigentliche Lindwurm des Ammertals soll bei Wurmlingen am Fuß der »Wandelburg« in einer Höhle sich aufgehalten haben. Die Wandelburg aber ist ein ebener Absatz des Remigiusberges, die eben daher ihren Namen hat, weil der Lindwurm daselbst gehaust hat und herumgewandelt ist. Ein Riese, andere sagen der starke Herr von Presteneck, soll sich am Eingang der Höhle verborgen und den Wurm durch ein angezogenes Spiegelkleid zu sich hergelockt und getötet haben. Ein Kamerad dieses Lindwurms soll bei Schwärzloch in einer Klinge, wo jetzt ein Brunnen ist, erlegt worden sein." (>> Quelle).
Offenbar gab es dort mehrere dieser Wesen und wir haben ja gelernt, dass es einstmals weder Riesen noch Drachen gab. Warum man dennoch spätestens im 11. Jahrhundert den Ort entsprechend benannt hat und ein solches Wesen auch in einem katholischen Schrein verewigt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Erstaunlicherweise verfügt dieses eingravierte Wesen aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts auch nicht über einen typischen Panzer, Flügel oder speit gar Feuer. Es erinnert mich eher mit einem solch' langen Hals an einen Sauropoden. Haben wir es hier mit einer Überlieferung zu tun, die einer naturalistischen Darstellung ähneln soll? Es kommen immer wieder Gerüchte auf, dass die Kirche Wissen verbirgt, das uns vorenthalten wird. Zumindest ist das ein Punkt, über den man einmal nachdenken sollte. Selbstverständlich schmückt ein Drachen das Ortswappen. Immerhin habe ich 22 Ortswappen mit Drachen in Mitteleuropa gezählt.
Bereits Marco Polo traf auf seinen Reisen durch China Wesen, die als Lindwürmer eingestuft wurden.
"Here are seen huge serpents, ten paces in length, and ten spans in the girt of the body. At the fore-part, near the head, they have two short legs, having three claws like those of a tiger, with eyes larger than a fourpenny loaf (pane da quattro denari) and very glaring. The jaws are wide enough to swallow a man, the teeth are large and sharp, and their whole appearance is so formidable, that neither man, nor any kind of animal, can approach them without terror. Others are met with of a smaller size, being eight, six, or five paces long (15 to 24 feet long);"
―The Travels of Marco Polo, The Venetian”, Chapter XL: Of the Province named Karazan; aus: Marco Polo, Travels in the Thirteenth Century Being a Description of Remarkable Places and Things in the Eastern Parts of the World Transl. from the Italien with Notes by William Marsden with a Map, Cox (1818).
Er behauptete auch, dass diese Wesen tagsüber in Höhlen schlafen und nachts zum Jagen rauskommen. Manchen Quellen zufolge bezeichnet man ausgerechnet flügellose Drachen als Lindwürmer, die jedoch als Voraussetzung mindestens zwei Beine haben müssen. Angeblich soll es auch sogenannte "Knucker" gegeben haben, die bis zu 10 Meter lang und 2 Meter hoch sind/waren. Einzig die Stummelflügel fehlen hier bei der Abbildung. (vgl. auch >> Quelle)
Der Illustrator Arthur Rackham hat den berühmten Fafnir, der nach Überlieferungen ohne Flügel auskommt, sehr schön dargestellt. Hierin könnte ich am ehesten eine Ähnlichkeit zur kirchlichen Darstellung von 1707 am Kapellenberg in Wurmlingen vermuten.
Arthur Rackham creator QS:P170,Q314938, Siegfried and the Twilight of the Gods p 022, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Blick von der kirchlichen Steinmetzarbeit des "Drachens" auf den Kapellenberg, den die Kirche an exponierter Stelle wie gewohnt für sich okkupiert hat.